Trotzige Wiederentdeckung der eigenen Geschwindigkeit

Die Erfurter Band Anger 77 kehrt mit einem phantastischen Album zurück
von Steffen Könau, 22.12.05, Mitteldeutsche Zeitung

Ganz oben, wo die Stars wohnen, ist die Luft sagenhaft dünn. Andreas Siegmund weiß das genau. „Wir sind ja damals zum Videodreh nach Amerika geflogen“, erzählt der Sänger der Erfurter Rockband Anger 77, „und natürlich haben wir geglaubt, dass das immer so weitergehen muss.“

Schließlich fand BAP-Chef Wolfgang Niedecken die Musik des Quintetts genau so bedeutsam wie Indie-Papst Philip Boa. Die Hannoveraner Fury In The Slaughterhouse waren ebenso bekennende Fans wie Regisseur Wim Wenders.

Aber es ist dann doch anders gekommen. Statt die Charts zu stürmen, strampelten die Rocktalente durch die Provinz, statt großem Ruhm gab es kleine Konzerte. Immer ungeduldiger drängte die Plattenfirma darauf, die Band möge endlich einen richtig großen Hit schreiben. „Ich bin jeden Tag aufgestanden, habe die Gitarre genommen und versucht, zu tun, was die wollten“, beschreibt Andreas Siegmund. Blöde Lieder seien dabei herausgekommen, mit Texten, „die nicht wie ich klangen“. Der Hit entstand nicht. Der Vertrag wurde gekündigt. Und die Band zerbrach.

Gemeinsam mit Gitarrist René Koch hat Siegmund weitergemacht. Alles zurück auf Anfang: Zwei Gitarren, Gesang, ein bisschen Klavier. Und nach zwei in Eigenregie eingespielten Mini-CDs erscheint nun heute, pünktlich zum traditionellen Weihnachtskonzert der Band, das vierte Anger-Album. „Betrunken von der Liebe“, produziert von Paul Grau (Reamon, Fury) versammelt elf Stücke zwischen Radiohead-Rock und sanfter Meret-Becker-Ballade. „Schwarze Tage sind vorbei“ ist eine hemdaufreißende Hymne gegen das Sich-selber-Aufgeben, „13“ porträtiert mit himmelstürmender Melodie leere Szene-Rituale, und im finalen „Still“ endet eine zarte Romanze, noch ehe sie beginnen kann.

Ohne den gespenstischen Hit-Druck von außen ist Andreas Siegmund wieder ganz nah bei sich selbst. Der 35-Jährige, wie Band-Kollege René Koch inzwischen Vater geworden, singt leiser und dunkler als in den Tagen, da Anger-Songs wie „Vielleicht“ auf Viva rotierten. Er klingt dringlicher und eindringlicher zugleich damit.

Denn das hier sind keine Design-Texte für Musik-Manager mit Rendite-Sorgen. Sondern tief aus dem Bauch gebaggerte Bekenntnisse. „Wenn ich hier runterfall“ wird zum beklemmenden Rückblick auf die Zeit im Rampenlicht. „Vorhang“ ist ein Liebesbrief nach der Trennung und in „Wie von selber“ wird sich wiedererkennen, wer sich im normalen TV-Tagesprogramm nie wiedererkennen kann.

Anger 77 besingen trotzig die Wiederentdeckung einer eigenen Geschwindigkeit abseits des Tempos der gewöhnlichen Pop-Verwertung: „Es ist wie es ist / egal wie ich’s dreh“, singt Andreas Siegmund, „ich komme meistens zu spät / auch wenn ich wirklich schnell geh / weil die Welt nun mal nicht auf mich wartet.“ Die Gitarre weint zwar. Aber der Sänger klingt kein bisschen traurig.